85 | 100 Die Dammbruchkatastrophe in Brasilien
Foto Koch feiert 100 Jahre und wir erzählen EURE besten Geschichten, denn ohne euch wären wir nicht hier. Die heutige Geschichte dreht sich um die Dammbruchkatastrophe von Brasilien.
Die Geschichte über Dona Delcina
Seit sechs Jahren sammelt Dona Delcina Regenwasser zur Selbstversorgung, seitdem am 5. November 2015 ein Staudamm in der Eisenerzmine Germano in Minas Gerais brach und das „Fukushima von Brasilien“ auslöste -, die schlimmste Umweltkatastrophe des Landes. Der Damm sicherte ein Absetzbecken für Klärschlämme: Wasser, Erde, Erze, Lösemittel, Autobatterien, Reifen, Industriemüll. Als die Mauer brach, rasten mehr als 50 Millionen Kubikmeter dieser giftigen Brühe wie ein Tsunami über Wälder, Felder, Häuser. 19 Menschen starben in den Fluten, eine Frau erlitt sofort eine Fehlgeburt. Der Schlamm schob sich siebenhundert Kilometer weit und vergiftete den Rio Doce bis in den Atlantik. Nie hat ein Bergbauunglück eine größeres Gebiet verseucht und einen teureren Schaden angerichtet. Die verwüstete Fläche ist groß wie Österreich und der Schaden wird auf 55 Milliarden Dollar geschätzt. Bis heute sind Fluss und Umland verseucht, das Trinkwasser vergiftet und Millionen Menschen leiden noch immer an den Folgen der Katastrophe.
Fünf Jahre später, zwischen 2019 und 2020, war ich monatelang mit meiner Produzentin, Stella Negraes, am Rio Doce unterwegs, um das Ausmaß und die Folgen dieser Katastrophe zu dokumentieren. Damals trafen wir Dona Delcina in Tumiritinga, einer Kleinstadt tief im Hinterland von Minas Gerais. Wir reisten den Fluss entlang in unserem Mietauto - die Pandemie war gerade in den Großstädten aufgetaucht.
Die 77-jährige empfing uns trotzdem - mit Masken und Abstand - und erzählte uns von ihrem Schicksal, dass so herzzerreißend war wie das aller anderen rund fünfzig Opfer, die wir auf unserer Reise portraitierten. In der Regenzeit sammelte sie Wasser und gewahrte es in Plastikcontainern auf. Als Opfer des Dammbruchs erkannte die Minengesellschaft die ehemalige Waschfrau nicht an, sie bekam also kein sauberes Trinkwasser geliefert und auch sonst keine Unterstützung. Delcina war überzeugt, dass eben jenes Trinkwasser eh vergiftet sei, dass die Lieferanten nämlich die Flaschen heimlich im dreckigen Fluss auffüllten. Sie musste jeden Cent umdrehen, verdiente etwas Geld mit der Aufzucht von Nymphensittichen. Trotzdem: Die Freundlichkeit und Offenheit, mit der Delcina uns in ihr Leben lies, war für uns Ansporn und Verpflichtung zugleich, auf das Schicksal dieser Menschen aufmerksam zu machen. Sie lies es geduldig über sich ergehen, dass ich meine Kamera, die Blitze und das Stativ überall in ihrem Haus aufbaute. Und sie bat uns inständig, die Situation am Fluss hier in Deutschland bekannt zu machen.
Wir schafften es trotz grassierender Pandemie bis an den Atlantik, wo der Schlamm sich bis heute immer weiter nach Bahia und Rio de Janeiro schiebt. Als wir nach Hause aufbrachen, wussten wir, dass wir diese lieben Menschen für lange Zeit nicht wiedersehen werden - die Pandemie wütet bis heute in Brasilien.
Wir schafften es trotz grassierender Pandemie bis an den Atlantik, wo der Schlamm sich bis heute immer weiter nach Bahia und Rio de Janeiro schiebt. Als wir nach Hause aufbrachen, wussten wir, dass wir diese lieben Menschen für lange Zeit nicht wiedersehen werden - die Pandemie wütet bis heute in Brasilien. Warum uns das hier in Deutschland interessieren sollte? Der Verursacher, die Samarco Mineração SA (ein Joint Venture zweier der größten Bergbauunternehmen der Welt: der brasilianischen Vale SA und der australo-britischen BHP Group) verkauft seine Eisenerze bis nach Deutschland, etwa an Thyssen-Krupp in Essen. Denn die Mine ist längst wieder offen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ein deutscher PKW Eisenerze aus der Germano-Mine enthält. Und doch weiß kaum jemand von den Methoden mit denen das Erz in Brasilien gefördert wird, denn Samarco führt eine beispiellose Vertuschungs-Kampagne und übt ihre kaum eingeschränkte Macht über die Reparations-Gelder mit diktatorischer Härte aus.
Für Delcina spitzte sich die Lage nach unserer Abreise weiter zu: Die Narben, die sie uns gezeigt hatte, platzten auf und ihre Haut pellte sich großflächig ab, denn zum Duschen war ihr Regenwasser zu kostbar, sie benutzte dafür Leitungswasser aus dem Rio Doce. Wochenlang rang sie mit dem Tod, rief uns häufig an und erzählte uns von ihren Schmerzen. Die Ärzte aber, sie wollten nicht rausrücken damit, was diese Krankheit verursacht hat. Wir erfuhren es von einer befreundeten Journalistin, die zu einer anderen Katastrophe recherchierte. Mittlerweile geht es Delcina zum Glück besser, „es geschieht, wie Gott es will“, sagt sie.
Meine Pläne für eine Ausstellung dieses Jahr wurden von der Pandemie zunichte gemacht. Glücklicherweise bat mich das Hilfswerk Misereor, mein Material vom Rio und besonders eines meiner Portraits für Ihre bundesweite Anzeigenkampagne verwenden zu dürfen. Das war die Lösung: Mit einer solchen Kampagne kann ich viel mehr Leute erreichen als mit einer Ausstellung. Mein Versprechen also konnte ich einlösen, daran zu erinnern, was vor sechs Jahren am Rio Doce passiert ist.
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